3. September 2011

Riga

Hallo liebe Leser,

in Vilnius goenne ich mir zwei Tage Pause. Ein Bummel durch die Altstadt beginnt an der Kathedrale des Erzbistums, geht ueber den Burgberg, den Gruendungsort der Stadt, durch die Gassen mit den kleinen Kreativlaeden und endet an der juedischen Synagoge, der einzigen, die die Deutschen haben stehen lassen.

Das Feindbild der Litauer wird aber - anders als in Polen, wo noch heute die russischen Panzer auf dem Denkmalssockel stehen - vorwiegend von der russischen Besetzung, weniger von den Ereignissen im zweiten Weltkrieg gepraegt. Und das, obwohl in Vilnius ein Drittel der Bevoelkerung von Deutschen ermordet wurde, naemlich der sehr hohe juedische Anteil. Im KGB-Museum in Vilnius werden nicht nur die Akten zur Einsichtnahme offen gelegt, sondern auch die Folterkammern im Keller gezeigt.

Abends singt der Kammerchor aus Belarus in der Jakobskirche. Hervorragender Chorklang ueberzeugt bei der russisch-deutschen Auswahl.

Den zweiten Tag lasse ich ruhiger angehen. Ein Bummel durch die Markthalle und den angrenzenden Basar erinnert an tuerkische Staedte. Der Ausflug zum 5 km entfernten Flughafen belegt das geringe Verkehrsaufkommen. Nur kleine Flugzeuge koennen hier landen. Immerhin erreicht man verschiedene europaeische Hauptstaedte: London, Bruessel, Riga,... Am Nachmittag komme ich zufaellig durch den riesigen Vingio-Park. Er besitzt eine gigantische Konzertmuschel mit Bestuhlung - offenbar fuer die Saengerefeste. Heute wird wieder eine grosse Rockbuehne aufgebaut. Sie wirkt eher klein gegen die Kuppel dahinter.

Auch heute Abend ist Kammerchor angesagt - diesmal der aus Vilnius. Er singt einen kompletten EvenSong, dann noch Chormusik franzoesischer Komponisten - leider begleitet von einer elektronischen Orgel...

Nach drei strahlenden Sonnentagen in Vilnius ist der Abreistag nun stark bewoelkt. Auf der A14 fahre ich nach Utena (96 km). Angesichts des geringen Verkehrsaufkommens ist es hier kein Problem, auch Fernstrassen mit dem Fahrrad zu nutzen. Oft bin ich auf der Strasse allein. Sie ist aber gut ausgebaut, so dass ich schnell voran komme. Einziger Ort unterwegs ist Moletai im litauischen Seengebiet. Die Seein sind hier aber kleiner als in Masuren und nicht miteinander verbunden. Der Tourismus ist daher noch gering.

In Utena begruessen mich riesige Gebrauchtwagenhaendler. In grossen Autotransportern werden Altfahrzeuge aus Europa hierher transportiert und fuer den litauischen Markt hergerichtet.

Der zweite Fahrtag beginnt unter einer schweren Wolkendecke. Leichter Niesel begleitet mich anfangs. Der zunehmende Nordwestwind ist kalt und blaest mir teilweise entgegen. Bis Kupiskis klart es dann sogar auf. Jetzt aber entlaedt sich ein heftiger Schauer, den ich zum Glueck im ueberdachten Eingang eines Einkaufszentrums abwarten kann. Trotz spaeter Stunde starte ich noch nach Birzai. Eine Wolke mit leichten Regen treibt mich vor sich her. Nach 105 km bin ich in der lebendigen Kleinstadt. An der Tankstelle erhalte ich - wieder einmal die Beschreibung des (langen) Wegs zum einzigen Hotel. Zwei junge Maenner erbarmen sich meiner Hilflosigkeit und fahren mit ihrem Gelaendwagen voraus, so dass ich bis zum Hotel folgen kann. Es liegt idyllisch an einem der Seen, waere aber kaum zu finden gewesen.

Heute Morgen gibts seit langem mal wieder ein ausgiebiges Hotel-fruestueck. So gestaerkt fahre ich die ersten 50 km trotz scharfem Gegenwind durch. Die offenen Felder bis zur lettischen Grenze bieten keinerlei Schutz gegen den erbarmungslosen Wind. Zum Glueck verlauft die Strasse in Lettland dann vorwiegend im Wald. So habe ich doch noch Hoffnung die 100 km bis Riga zu schaffen. Einen kleinen Umweg goenne ich mir an der Staumauer von Salaspils. Der grosse Daugava-Fluss wird hier auf etwa 20 m ueber Gelaende aufgestaut. Ein grosses Kraftwerk erzeugt regenerative Elektrizitaet. Allerdings sind die schweren Hochspannungs-transformatoren keine zwei Meter von der Strasse entfernt. Es brummt und knistert gespenstisch.

Die Stadteinfahrt am rechten Ufer erlaubt, die zunehmende Verstaedterung des Ufers auf den letzten 15 km zu beobachten. Zuletzt gelangt man auf einer aufwaendig trassierten Stadtautobahn entlang des Ufers direkt an den Rand der Altstadt. Im "Backpackers Planet" erhalte ich fuer 11 Letva (= 14 Euro) ein Einzelzimmer. Es ist in eine ehemalige Lagerhalle direkt gegenueber der Markthalle und des Bahnhofs eingebaut. Der Fussgaengertunnel durch den Bahnhof fuehrt direkt in die Altstadt...

Viele Gruesse aus dem naechtlichen Riga

Joachim Heidinger